Entlastung der Experten als Hebel gegen Fachkräftemangel
15.10.2025
Das Fraunhofer-Institut arbeitet an nutzerfreundlichen Bedienoberflächen für ungelerntes Personal – ohne das Know-how der erfahrenen Mitarbeiter aus den Augen zu verlieren. Ein Interview mit Raphael Hägle beim Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung in Stuttgart.
Raphael Hägle, stellvertretender Forschungsteamleiter Intelligente Fertigungsprozesse und Interaktionssysteme, Fraunhofer-Institut
Auch für Fleischwarenhersteller versprechen intuitiv bedienbare und sprachunabhängige Nutzeroberflächen viele Vorteile, wenn es darum geht, Fachkräfte zu entlasten, indem mehr Aufgaben an Ungelernte übergehen – Stichwort „Unskilled Labour“. Wie gehen Sie bei der Entwicklung und Integration von Human-Machine-Interfaces (HMIs) vor?
Der Schwerpunkt unserer Arbeit besteht darin, von Grund auf zu verstehen, was die Aufgaben und Bedürfnisse eines Bedieners an der (automatisierten) Maschine sind und wie man ihn bei seiner Arbeit zielgerichtet unterstützen kann. Hierbei ist das zu entwickelnde Bedienkonzept entscheidend, wobei wir sowohl das Front- als auch das Backend betrachten. Wir setzen dabei auf eine aufgabenbasierte Bedienlogik, die zum Beispiel durch neue Technologien wie erweiterte Realität (Augmented Reality) oder mit dem bestehenden Bediensystem der Maschine, etwa durch ein touchbasiertes, intuitives Panel, umgesetzt werden kann. Aus meiner Sicht ist immer die Nutzersicht zentral. Bei der Erfassung der Nutzeraufgaben und -rollen setzen wir auch Eyetracking-Systeme ein, um auch die Blickdaten analysieren zu können. Das HMI, wo die Bedienung dann auch stattfindet, sollte aus Nutzer- und nicht aus Entwicklerperspektive betrachtet werden. Dabei ist es selbstverständlich, einen menschzentrierenden Ansatz zu verfolgen und die Nutzenden direkt bei der Entwicklung einzubeziehen.
Was bedeutet das konkret?
Maschinen werden oftmals aus Entwicklersicht gebaut – und dementsprechend wird auch das Bediensystem so aufgebaut. In der Praxis nutzen Anwender sie jedoch oft anders oder denken anders; das erleben wir vor Ort immer wieder. Diese verschiedenen Sichtweisen greifen wir auf und ergründen gemeinsam die Motive, bevor es an das Neudesign geht. Beim aufgabenbasierten Bedienkonzept steht nicht die Funktionalität der Maschine, sondern die Aufgabe der Nutzenden im Fokus. Diese bildet den Ausgangspunkt für die Neuentwicklung und Anpassung des HMI.
Mithilfe von Eyetracking-Systemen lassen sich die Arbeitsschritte der Maschinenbedienung analysieren. Foto: Fraunhofer Institut
Was bieten Sie Unternehmen konkret an?
Schon seit einigen Jahren bieten wir Unternehmen einen „Usability Quick Check“ an, indem wir eine Maschine beim Kunden vor Ort betrachten. Bei der Usability-Evaluierung arbeiten wir mit echten Bedienenden an der Maschine zusammen. Wir benutzen dabei ein Eyetracking-System, setzen also den Nutzenden eine Brille auf, um näher zu analysieren, worauf sie beim Arbeiten schauen. Am Ende des Prozesses können wir zur Umsetzung übergehen. Wir sind im Team sehr differenziert aufgestellt, mit Programmierern, Designern und Usability-Experten, um ein nutzerfreundliches Bedienkonzept ganzheitlich zu entwickeln. Auf Basis der Ergebnisse des „Usability Quick Checks“ können wir anschließend die Weiterentwicklung und Optimierung angehen. Wir unterstützen daneben Unternehmen bei der Neuentwicklung eines HMI. Eine spannende Möglichkeit ist dabei die Umsetzung einer webbasierten HMI-Architektur, bei der die Visualisierung von der Steuerung getrennt wird. Dadurch ergeben sich für die HMI-Entwicklung mehr Freiheiten und Visualisierungsmöglichkeiten.
Wie groß ist die Bereitschaft von Unternehmen, in diese Ansätze zu investieren?
Wir haben hier, gerade im schwäbischen Raum, Unternehmen mit mehreren Tausend Mitarbeitern. Darunter sind viele große Unternehmen, bei denen ein nutzerzentrierter Entwicklungsansatz bereits etabliert worden und für die intuitive Bedienung ein zentrales Thema ist. Aber auch kleinere Firmen setzen sich strategisch das Ziel, Usability-Kompetenz aufzubauen und ihre Maschinen entsprechend zu entwickeln. Wir müssen dabei immer darauf achten, dass die Maschinen mit den neuen „Extras“ nicht zu teuer werden und sich die Vorteile in Form von Effizienzgewinnen realisieren.
Eine nutzerfreundliche Bedienung der Maschine kann zur Motivation der Mitarbeitenden beitragen. Foto: Smederevac
Wie kommen „intuitive“ Panels bei den Mitarbeitern an?
Für die Mitarbeiter hat eine nutzerfreundliche Bedienung der Maschine viele Vorteile. Was wir im Rahmen von Interviews und Beobachtungen mit tatsächlichen Benutzern immer erörtern, ist das Thema Motivation: Macht die Bedienung einer Maschine, mit der man richtig gut zurechtkommt, mehr Spaß? Und dann hören wir, dass, wenn jemand ein Handy, ein Tablet oder einen Thermomix kauft, er diese Geräte direkt bedienen kann; an solch einer Maschine muss er sich hingegen durchkämpfen und durch verschiedene Ansichten klicken. Ähnlich enervierend für Mitarbeiter sind Standzeiten, das heißt, wenn eine halbe Stunde lang gar nichts passiert, die Zeit jedoch läuft.
Durch intuitive Bedienbarkeit können Standzeiten der Maschine verringert werden. Foto: guteksk7
Wie können Standzeiten durch besser bedienbare Maschinen verringert werden?
In einem Referenzprojekt ist es uns gelungen, die Bedienenden für einen Prozessschritt fit zu machen, für den sonst immer ein Experte gerufen werden musste, wodurch Wartezeiten von bis zu 30 Minuten entstanden. Also haben wir einen Workflow erstellt, in dem wir den Umrüstungsprozess aufgabenbasiert entwickelt und visualisiert haben. Die ungelernte Hilfskraft wird jetzt durch das touchbasierte HMI bei der Umrüstung der Maschine begleitet. Wir hatten Maschinen, die drei- bis viermal am Tag umgestellt werden mussten – bei den sonst entstehenden Wartezeiten kommt man in eine Dimension der Effizienzsteigerung, die dann schon relevant ist und konkret auf den Fachkräftemangel einwirken kann, weil die Erleichterung direkt beim Experten, der Fachkraft, ankommt. Die Firma steigert ihre Effizienz; der Hersteller hat einen Wettbewerbsvorteil.
Inwieweit lassen sich Bedienoberflächen individualisieren und kann KI dabei helfen?
Ein Ziel wäre, für jede Maschine und jeden Kunden eine individuelle und automatisiert erstellte Bedienoberfläche zu bauen. Das bedeutet, der Kundenauftrag wird ins System eingegeben und im Hintergrund wird die Benutzeroberfläche automatisch zusammengestellt, je nachdem, welche Maschine läuft, mit welchen Funktionalitäten und Benutzerrollen. Ich glaube, darin steckt viel Potenzial. Viele Unternehmen schreckt das gerade noch ab, weil sie einen hohen Aufwand befürchten. Gemeinsam mit Unternehmen arbeiten wir jedoch daran, den Initialaufwand zu reduzieren, damit der Entwickler nicht jede Maschine von Neuem von Hand anfassen muss, sondern das System automatisiert ist und immer die richtigen Bedienoberflächen generiert.
Im Bereich Wissensmanagement gibt es Projekte, bei denen KI von erfahrenen Bedienenden trainiert wird und ständig dazulernt. Tritt ein Problem erneut auf, kann die KI bereits eine Lösung vorschlagen oder einen neuen Lösungsweg generieren. Insgesamt steckt in der KI noch viel Potenzial, um bei der Arbeit auch die Maschinenbedienung gezielt zu unterstützen.
“Ich sehe sehr viel Potential darin, sprach- und kulturunabhängige HMIs anzubieten. So können auch Menschen zur Bedienung von Maschinen befähigt werden, die nicht lesen und schreiben können.”
Wir sprechen in Deutschland viel vom Ethos des Handwerks und vom Wert guter Ausbildung: In welchem Spannungsfeld bewegt sich dies zur Qualifizierung ungelernter Kräfte?
Anhand der Aufgabe sollte differenziert werden: Was sind zentrale Aufgaben an der Maschine und was bedeutet das für die Nutzerrolle? Wir müssen davon abkommen, dass eine Person alles an der Maschine vollumfänglich macht, von der Einstellung bis zur Qualitätsverbesserung im letzten Millimeterbereich. Stattdessen sollten die Experten, von denen es in Deutschland immer weniger gibt, gezielt eingesetzt werden, um ihre Fähigkeiten und Erfahrungen zur Qualitätsverbesserung und/oder Fehlerbehebung zu nutzen. Ungelernte Fachkräfte sollen dann für einfachere Aufgaben eingesetzt werden, wobei sie durch HMI-Systeme oder Augmented Reality unterstützt werden.
Wir sehen uns immer erst einmal an, was es für Rollen an der Maschine gibt: In einem Projekt gibt es einen Prozessingenieur, der sich mit den Daten beschäftigt, und den Bediener, der mit Daten nicht viel zu tun hat. Der Prozessingenieur muss die Parameter kennen, nach denen alles läuft. Der Bedienende hält die Maschine selbst am Laufen.
Dank sprach- und kulturunabhängiger HMIs können auch Menschen, die nicht lesen oder schreiben können, die Maschinen bedienen. Foto: B4LLS
Würden Sie die These unterstützen, dass in Märkten mit einem geringeren Industrialisierungsstandard eine leichtere und intuitive Bedienbarkeit von Maschinen eine noch höhere Wirkung haben kann? Immerhin gehen 80 Prozent der in Deutschland hergestellten Maschinen in den Export.
Ich sehe sehr viel Potential darin, sprach- und kulturunabhängige HMIs anzubieten. So können auch Menschen zur Bedienung von Maschinen befähigt werden, die nicht lesen und schreiben können. Wir richten auch bei unserem Projekt den Fokus darauf, so wenig Text wie möglich zu benutzen. Ein Ziel ist, Maschinen kulturunabhängig einzusetzen.
Die Automatisierung hängt insgesamt sehr von den jeweiligen Branchen und Märkten ab. Aus China kommt immer mehr guter Maschinenbau mit viel Digitalisierung, der beginnt, die Preise hier zu drücken. Aber es gibt viele Märkte, wo es auf jeden Euro ankommt, und da kann man nicht voll automatisieren.
Auch bei uns gibt es noch viele Maschinen, die einfache händische Prozesse verlangen, beispielsweise Stellhebel zu verändern, Schienen hinzuzufügen.
Kann auch weniger zu automatisieren interessant sein?
Ja, es kann spannend sein, Maschinen so zu gestalten, dass sie wenig Automatisierung beinhalten – auch für weniger entwickelte Märkte, wo es entscheidend sein kann, einfache und robuste Lösungen zur Hand zu haben. Auch für eine weniger automatisierte Maschine können Bediensysteme gebaut werden, die mit Texten, Bildern und Animationen durch die jeweilige Aufgabe führen. Und wenn sich doch einmal nur mit einem Schraubenschlüssel etwas verändern lässt – dann wird das angezeigt.
Michael Hopp
Autor in der Foodtech Now!-Redaktion, der mit seinen Geschichten zeigen will, dass Tradition und Innovation zusammengehören.