Im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit kommt die Nachhaltigkeitsexpertin Dr. Beate Gebhardt viel in der Fleischbranche herum. Was sie dort schon immer fasziniert hat, ist der hohe Anteil von familiengeführten Firmen. Im Interview erzählt sie, wie bedeutend der Wert „Enkelfähigkeit“ für die Entwicklung nachhaltiger Perspektiven ist – und dass er zugleich nicht zwingend an die biologische Nachfolge gebunden ist.
Wie hängen „Enkelfähigkeit“ und Nachhaltigkeit zusammen?
Für mich ist „Enkelfähigkeit“ ein anderer Begriff für nachhaltiges Wirtschaften. Der Begriff hilft dabei, die Zukunft in den Blick zu nehmen, was die Voraussetzung für jede nachhaltige Maßnahme ist: Wo steht meine Firma in 30 Jahren? Es geht um das Gespräch und die Auseinandersetzung mit den nächsten Generationen. Mit mehr Zeit und Tiefe, als man in einen Quartalsbericht investiert.
„Wo steht meine Firma in 30 Jahren? ‚Enkelfähigkeit‘ bedeutet, sich diese(r) Frage zu stellen.“
Was ist mit „Enkelfähigkeit“ genau gemeint?
Das ist nicht definiert, es gibt kein Zertifikat, keinen Standard, der das festlegt, aber „enkelfähig“ legt nahe, dass es dabei um die ökonomische Zukunft geht, in Verbindung mit Ökologie und Sozialem. So findet man den Begriff auch in der Praxis. Etwa dann, wenn sich Biobauern und Biounternehmen gegen Ackergifte positionieren. Es gibt eine „Enkelfähigkeit®-Akademie“, mit Referenten von großen landwirtschaftlichen Firmen.
Wie „enkelfähig“ finden Sie die heutige Lebensmittelproduktion?
Wir sprechen hier über eine große Spanne verschiedenartiger Unternehmen, über komplexe, teils globale Wertschöpfungsketten und müssen dabei Bereiche voneinander unterscheiden, wie den Pflanzenanbau, die Tierhaltung und Verarbeitung, den Lebensmittelhandel. Wir haben verschiedene Probleme, unterschiedliche Beziehungen – aber auch Optionen. Zudem, und das macht es nicht einfacher, ist das Leitbild der Nachhaltigkeit eine fantastische Vision, die in ihren Messgrößen ungenau ist und wohl immer ungewiss bleibt.
Wir können uns ja vorsichtig herantasten: Was ist so besonders an der Lebensmittelbranche?
Lebensmittel stehen im Fokus des alltäglichen Lebens. Als Verbraucher sind wir existenziell mit der Ernährung verbunden. Die ethische Komponente hat dabei an Bedeutung gewonnen. Hochwertige und gesunde Lebensmittel interessieren uns sehr. Deshalb ist die Chance groß, dass wir in der Lebensmittelbranche Mutmacher oder Vorreiter finden. Es besteht sozusagen eine Nachfrage nach guten Nachrichten. Viele Vorsitzende von Unternehmens- oder Nachhaltigkeitsverbänden identifizieren die Lebensmittelbranche inzwischen als Leitbranche der Nachhaltigkeit.
„Oft wird die Lebensmittelwirtschaft heute als Leitbranche für Nachhaltigkeit identifiziert.“
Was schätzen Sie: Wie viele der Unternehmen in der Lebensmittelbranche befassen sich mit Nachhaltigkeit?
In einer Studie über die Nachhaltigkeitsexzellenz der milch- und fleischverarbeitenden Branche, die ich vor einiger Zeit durchgeführt habe, zeigen die Ergebnisse noch eher Zurückhaltung: Über Nachhaltigkeitsaspekte kommuniziert die Hälfte der Molkereien auf ihrer Website; die Fleischverarbeitung informiert deutlich seltener über ihre Nachhaltigkeitsaktivitäten.
Was macht die Fleischbranche diesbezüglich zurückhaltender?
Die Fleischbranche kommt in nachhaltige Bewegung, das ist meine Beobachtung. Aber sie hat im Gegensatz zu allen anderen Lebensmittelbranchen ein Grundthema, das sehr kritisch ist und lange dazu geführt hat, dass überhaupt verhalten kommuniziert wird: Wir wollen gern Fleisch essen, aber dafür töten möchten wir eigentlich niemals – für das Tötungsdilemma gibt es keine Lösung, bisher. Vielleicht mit den tierischen Proteinen aus dem Labor, die setzen nun genau hier an.
In der deutschen Fleischbranche gibt es einen sehr hohen Anteil an Familienunternehmen. Warum?
Die Antwort ist ganz einfach: Es gibt sehr viele Metzgereien. Fleisch war ja die letzte Lebensmittelkategorie, die in den Selbstbedienungsbereichen der Supermärkte aufgetaucht ist. Das hat man zuvor noch lange in der Metzgerei geholt. Noch gibt es in Deutschland viele Metzgereien und das sind kleine Betriebe, die historisch gewachsen und fast immer im Besitz von Familien sind, die mit der Region verbunden sind.
Ist jedes Familienunternehmen „enkelfähig“?
Na ja, wenn Enkel da sind... Nein, diesen Zusammenhang gibt es nicht zwingend. Es gibt in Deutschland einige Familienunternehmen im Bereich Fleisch, die sich stark für Nachhaltigkeit einsetzen und eine Nachhaltigkeitsstrategie auflegen, Fleischersatzprodukte ins Sortiment nehmen oder beim Einkauf streng auf die Tierhaltung achten. In Deutschland gibt es aber auch Familienunternehmen, die aufgeben oder aufgrund ihrer wenig nachhaltigen Unternehmenstätigkeit in der Kritik stehen. Ich würde sagen, „Enkelfähigkeit“ ist eine Haltung, die nicht an eine bestimmte Unternehmensform gebunden ist.
„In die Zukunft zu schauen, erfordert mehr Zeit und Tiefe, als man in einen Quartalsbericht investiert.“
„Enkelfähigkeit“ kann ja auch für eine gelungene Nachfolge stehen …
Die Nachfolgefrage ist aufgrund des demografischen Wandels und der auf den Kopf gestellten Bevölkerungsstruktur in Deutschland eine enorm große Herausforderung und für den Fortbestand vieler Unternehmen existenziell: Wer will heute noch ins Handwerk gehen? Und wer will heute noch in der Landwirtschaft arbeiten? Ökonomischer Fortbestand ist ein grundlegender Aspekt, wenn wir die Themen Nachhaltigkeit und „Enkelfähigkeit“ aufrufen.
Stichwort Resilienz …
Unternehmen brauchen heute einen langen Atem. Die multiplen Krisen haben uns gelehrt, die Zukunft besser mitzudenken. Die Anforderung, anpassungsfähig oder sogar wandlungsfähig, also resilient zu sein, betrifft heute alle. Und da frage ich mich oft, ob die Familienunternehmen, insbesondere kleine Unternehmen, wirklich besser aufgestellt sind. Diese arbeiten meist sehr schlank, oft mit einem Geschäftsführer, der gleichzeitig für das Strategische und das Operative zuständig ist. Wer soll den Laden am Laufen halten, wenn eigentlich Transformation angesagt ist?
Keine gute Nachricht!
Das bedeutet aber nicht, dass große Unternehmen so viel besser aufgestellt sind. Studien zu Corona haben gezeigt, dass viele Krisenstäbe eingerichtet, viele aber auch wieder abgeschafft wurden, nachdem die Corona-Krise abgeklungen war – anstatt das Krisenmanagement als Teil des Nachhaltigkeitsmanagements zu verstetigen. Das wäre „Enkelfähigkeit“ gewesen! Die gute Nachricht ist: Es gibt viele engagierte mittelständische Unternehmen, die das Thema nach vorn bringen – obwohl in jüngster Zeit der Gegenwind bezogen darauf, nachhaltig zu wirtschaften, zugenommen hat.
Können Familienunternehmen mit Nachfolge den natürlichen Generationenkonflikt als Innovationstreiber nutzen? Nach dem Motto: Der Vater hat es so gemacht, der Sohn macht es anders.
Die Kompetenzen sind mittlerweile andere. Die Jungen bringen die digitalen Skills einfach mit. Aber auch die Werte haben sich verändert; Nachhaltigkeit wird in der jungen Generation höher bewertet, ist selbstverständlicher. Ich sehe oft Folgendes: Wenn landwirtschaftliche Betriebe von den Kindern übernommen werden, kommt eine Bewegung rein, die vorher nicht denkbar war. Mitarbeiter erfahren dann eine neue Wertschätzung.
Kann das nicht auch zu Konflikten führen?
Kann, aber muss nicht. Es ist doch ein Glücksfall, wenn Kinder in die unternehmerischen Fußstapfen ihrer Eltern treten und dabei eigene Visionen haben! Es muss ja nicht alles gelingen, was sich der Nachwuchs überlegt, solange es nicht schwerwiegende Folgen hat. Entscheidend in dem Prozess sind auch Persönlichkeitsmomente: Kann sich die Elterngeneration aus dem Unternehmen zurückziehen und sozusagen in einen Coach verwandeln? Was passiert, wenn es mehrere nachgeborene Nachfolger gibt? Ein Ansatz ist, hier Mediatoren einzubinden, um gemeinsam die Stärken der einzelnen Geschwister zu entdecken.
„Kann sich die Elterngeneration zurückziehen und in einen Coach für die nachfolgenden Kinder verwandeln?“
Zu welchem Zeitpunkt sollten Nachfolger aus der Familie ins Unternehmen einsteigen?
Ich habe den Eindruck, manchmal kommt es relativ spät. Die Elterngeneration dachte schon, die Kinder wollen gar nicht, oder Letztere haben sich erst mal in anderen beruflichen Feldern orientiert, um dann irgendwann doch noch an die Tür zu klopfen. Ist es dann noch früh genug, um die Nachfolge zu organisieren? Es dauert Jahre, bis man so einen Metzger-, Bäcker- oder Handwerksbetrieb richtig verstanden hat. Oft bringen die Kinder eine akademische Ausbildung mit, eine Qualifikation, die es etwa in handwerklich geprägten Betrieben zuvor nicht gab. Da stellt sich dann die Frage, welche Qualifikationen man wirklich braucht, um das Unternehmen zu führen.
Werden junge Frauen bei der Nachfolge benachteiligt?
Ja, es gibt einen Gender-Gap; wir haben weniger Frauen in der Unternehmensnachfolge und in Führungspositionen generell. Im Dienstleistungsbereich ist es etwas besser. Deutschland ist sehr maschinenbaulastig, und da haben wir die wenigsten Frauen. Auch bei den Nachfolgeregelungen in Lebensmittelbetrieben sehen wir, wie Gender differenziert: Die jungen Männer zieht es in die Produktion, die Frauen eher ins Marketing. Der höhere Anteil der Frauen an der Kindererziehung begünstigt die Entwicklung auch nicht gerade.
Wie kann die Nachfolge „enkelfähig“ geregelt werden, wenn es gar keine Enkel gibt?
An den Dualen Hochschulen in Baden-Württemberg wurden Studiengänge eingerichtet, mit dem Ziel, Führungskräfte heranzuziehen, ähnlich den früheren Berufsakademien. Die angehenden landwirtschaftlichen Betriebsleiter sind dann schon in den Betrieben angestellt und können gleichzeitig einer akademischen Ausbildung nachgehen, Theorie und Praxis sind eng verknüpft, Frauen und Männer gleichermaßen dabei. Und es gibt weitere erfolgreiche Ansätze, um ein Unternehmen ohne Nachwuchs weiterzuführen, wie es in Mitarbeiterhand zu legen oder Genossenschaften bzw. Stiftungen zu bilden.
Für Fleischbetriebe kann die Erweiterung der Produktion, z. B. um Fleischersatzprodukte, ein finanzielles Problem darstellen, wenn hierfür beispielsweise Forschung finanziert werden muss. Hier können „Enkel“ allein auch nicht helfen …
Die „Verjüngung“ oder die langfristige Perspektive kann dann durch die Zusammenarbeit mit Start-ups befördert werden; wir haben eine ausgeprägte Start-up-Kultur an den Universitäten, es entwickeln sich Entrepreneur-Zentren. Hier kann man kooperieren, eventuell über ein gutes Konzept auch an Venture-Kapital herankommen. Die Großen wie die Schwarz-Gruppe hinter Lidl machen vor, wie man mit NGOs kooperieren und Start-up-Innovationhubs bilden kann. Das würde man jetzt nicht als „enkelfähig“ bezeichnen, aber die Zukunft sichert es allemal.
Michael Hopp
Autor in der Foodtech Now!-Redaktion, der mit seinen Geschichten zeigen will, dass Tradition und Innovation zusammengehören.